Mir hat auch keiner was geschenkt





Vor einiger Zeit habe ich in der „Süddeutschen Zeitung“ einen sehr interessanten Artikel gelesen. „Fleiß und Mühe“ hieß die Überschrift, und es ging um eine Studie zum Thema Bildungsgleichheit. Dabei kam heraus, dass 85 Prozent der Deutschen der Meinung sind, dass ein hoher Bildungsabschluss vor allem oder eher auf eigener Anstrengung beruht.



Mich hat das an die Debatte erinnert, die wir in unserer Literaturgruppe über Annie Ernaux hatten, über ihr Buch „Erinnerungen eines Mädchens“. Ich finde, dass Ernaux sehr präzise beschreibt, wie Menschen, die nicht über ausreichend „symbolisches Kapital“, wie Bourdieu es nennt, verfügen, die aus den berüchtigten „bildungsfernen“ Haushalten kommen, und auch keine Ahnung haben, wie „man“ sich zu benehmen hat, wie man sich kleidet, sich bewegt, wie man spricht,  was als guter Geschmack gilt, gedemütigt und ausgegrenzt werden.Wie es ihnen also schwer gemacht wird, den sozialen Aufstieg zu schaffen.



Ernaux beschreibt außerdem sehr genau, wie die Spielregeln des sexuellen Verhaltens funktionieren. Eine Frau, die einerseits ambitionierte Bildungswünsche hat, andererseits ihr sexuelles Begehren entdeckt, hat sowieso schon ein Problem, in Ernaux' Jugend Ende der 50er Jahre ganz massiv, aber ich behaupte mal, bis heute, nicht umsonst gibt es sich als Feministin verstehende Frauen, die für sexuelle Enthaltsamkeit von jungen Frauen plädieren, um den Bildungserfolg nicht zu gefährden. Ernaux jedenfalls hatte als junge Frau keine Ahnung davon, was sie sich nach den Regeln der bürgerlichen Doppelmoral erlauben durfte und was nicht und wurde so zur verlachten und verachteten Außenseiterin.



Die meiner Meinung nach sehr akkurate, unsentimentale Schilderung, wie Klasse und Geschlecht den Lebensweg prägen, hat nicht alle Frauen in unserer Gruppe  beeindruckt. Besonders eine wehrte sich vehement gegen eine politische Lesart des Buches und warf Ernaux stattdessen vor, es ginge ihr nur um sich selbst, um ihr eigenes, ganz individuelles Schicksal, mit dem sie hadere, und das auch noch ohne wirklichen Grund. Denn, so die Argumentation, andere hätten es ja viel schwerer gehabt und würden nicht so ein Bohei machen. Sie selbst und viele, die sie kenne, hätten sich auch gegen Widerstände behaupten und sich sehr anstrengen müssen, aber sie hätten es geschafft, und Ernaux hätte es schließlich auch geschafft. Statt dankbar zu sein für die Chancen, die der Staat und das Bildungssystem ihr ermöglicht haben, jammere sie nun. Offenbar empfand diese Frau das Buch als nahezu unerträglich. Die Frage ist nur, warum.



Und warum meinen 85 Prozent der Deutschen, dass Bildungserfolg vor allem auf eigener Anstrengung beruht? Wo es doch hinreichend bekannt ist, dass gerade in Deutschland die soziale Durchlässigkeit keinesfalls hoch ist, dass Kinder akademisch gebildeter Eltern meistens studieren und Kinder aus Arbeiterfamilien fast nie.



Eine Erklärung könnte sein, dass das genau der Punkt ist. Die bürgerliche, akademisch gebildete Mittelschicht will nicht, dass an den Verhältnissen gerüttelt wird, sie will keine höhere Durchlässigkeit. Sie will ihre Privilegien sichern. Das sagt aber niemand. Stattdessen wird die Existenz von (eigenen) Privilegien geleugnet, womöglich sogar vor sich selbst, indem die Idee der Leistungsgesellschaft hochgehalten wird. Wer sich nur genug anstrengt, wer fähig und stark genug ist, so geht die Geschichte, der (oder sogar die) wird es auch schaffen. Wer es nicht schafft, ist nach dieser Logik selbst schuld. Leistung ist alles, was zählt, diese Behauptung wird ja auch in der Debatte um die Quote immer wieder gebetsmühlenartig wiederholt, wovon sie nicht wahrer wird. Privilegien werden in unserer Gesellschaft systematisch unsichtbar gemacht und damit aufrechterhalten.



Warum aber verteidigen auch Menschen, die selbst nicht mit allzu vielen Privilegien gestartet sind, diesen Mythos, dass allein Leistung, Mühe, Anstrengung und Fleiß zählten? Warum reagieren sie mit Wut und Ablehnung auf diejenigen, die am eigenen Beispiel beschreiben, wie schwer es ist, aus einer wenig privilegierten Position heraus den Weg durch die Bildungsinstitutionen zu gehen, „aufzusteigen“?„Mir wurde auch nichts geschenkt“, so hieß das früher bei älteren Menschen in Deutschland. Der Satz ist aus der Mode gekommen, die Haltung nicht.



Eine mögliche Erklärung wäre: es geht ums Selbstgefühl. Die wirklich Privilegierten wollen nicht wahrhaben, dass sie privilegiert sind. Es fühlt sich nicht gut an, unverdiente Vorteile zu genießen.Und die weniger Privilegierten wollen vielleicht die Kränkung vergessen, beim Start zu den Zukurzgekommenen gehört zu haben. Es fühlt sich auch nicht gut an, im Nachteil zu sein, unsicher, unpassend, womöglich unerwünscht. Da ist es möglicherweise einfacher, diese Gefühle zu leugnen und sich abzugrenzen von allen, die, wie Ernaux, zu deutlich die demütigenden Erfahrungen beim sozialen Aufstieg thematisieren, auch die Scham, nicht zum „richtigen“ Milieu zu gehören.



Zwar wird viel über soziale Ungleichheit geredet und geschrieben, und auch Privilegien sind inzwischen ein Thema in der öffentlichen Debatte. Trotzdem scheint es so zu sein, dass, wenn es ganz konkret und persönlich wird, die Benennung von Privilegien Abwehr auslöst. Als ob es unerträglich wäre, die mit Privilegien verbundene Ungerechtigkeit tatsächlich zu sehen. Leichter, vor allem für die, die profitieren, ist es, am Mantra der Leistungsgesellschaft festzuhalten und die Existenz von Privilegien zu leugnen. 
  

Ideologisch unterfüttert wird diese Haltung von den Leitsätzen der Politik. Der Satz von Angela Merkel, nach dem „Bildung für alle“ das alte Versprechen vom „Wohlstand für alle“ ersetzen müsse, macht klar: wir geben euch Bildung, das muss reichen. Formale Chancengleichheit. Wer es trotzdem nicht schafft - selbst schuld.




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